Zirkuläre Innovationen der Berner Wirtschaft

Whitepaper in Kürze

  • Die Berner Wirtschaft ist in ihren Bestrebungen zur Kreislaufwirtschaft ein Spiegelbild der Schweizer Wirtschaft: Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung im Auftrag von reuter transferpilots.ch zeigen für das Espace-Mittelland, dass rund 65% der Unternehmen mindestens zwar eine zirkuläre Aktivität umsetzten, diese Aktivitäten von den Firmen jedoch überwiegend als punktueller Beitrag zu Umweltschutz und Materialeffizienz verstanden werden – nicht aber als Chance für innovative Geschäftsmodelle. Für 85% der befragten Unternehmen spielen zirkuläre Produkte und Services gar keine Rolle.
  • Neben einem Vergleich mit europäischen Initiativen zur Förderung der Kreislaufwirtschaft illustriert der in 2021 publizierte Report «Kreislaufwirtschaft. Innovationen der Berner Wirtschaft im europäischen Kontext.» in Interviews mit Entscheidungsträgern dennoch eine wachsende Zahl an zirkulär ambitionierten Unternehmen. Die zahlreichen, im Report vorgestellten Beispiele werden in diesem Whitepaper exemplarisch anhand der jeweiligen Herausforderungen in den drei Geschäftsfeldern, Bau, Medizinaltechnik und Kunststoffindustrie skizziert.
  • Die überragende Rolle der Geschäftsführung, die institutionellen und finanziellen Herausforderungen insbesondere für KMU, die Tatsache, dass sich auch High-Tech-Unternehmen aufgrund internationaler Standards und Qualitätsvorschriften mit der Zirkularität schwer tun sowie die Feststellung, dass die Komplexität der Kreislaufwirtschaft ein einzelnes Unternehmen an seine Leistungsgrenzen bringt und Kooperationen unabdingbar sind, schälen sich als wesentliche Erkenntnisse des Reports heraus.

Vorbemerkung

Um zirkuläre Wertschöpfungsprozesse zu gestalten, müssen neben umfangreichen Informationen über die Materialien und den Energieeinsatz die gegenseitigen Abhängigkeiten über Wirtschaftssektoren und Branchen hinweg berücksichtigt werden. Eine systematische Betrachtung und Förderung der Kreislaufwirtschaft ist unumgänglich und sollte den internationalen Wettbewerb sowie die Voraussetzungen für zirkuläre Innovationsprozesse in Netzwerken beachten. Dem Schweizer Finanz- und Versicherungssektor kommt eine zentrale Bedeutung zu. In vielen europäischen Ländern bauen entsprechende Initiativen auf den ressourcenspezifischen Stärken für zirkuläre Rohstoffe und Materialien im eigenen Land auf. Die EU sieht die Kreislaufwirtschaft als strategisches Vorhaben für einen gesicherten Zugang ihrer High-Tech-Industrien zu wichtigen Materialien und priorisiert die Entwicklung regionaler (Sekundär-) Märkte für zirkuläre Produkte und rezyklierte Materialien. Im Kern sind diese Konzepte zur Förderung und Umsetzung der Kreislaufwirtschaft umfangreiche Innovationsagenden.

Bauwirtschaft im Spannungsfeld verschiedener Nachhaltigkeitsziele

Fahrbelagserneuerungen im Strassenbau sind ein wichtiges Betätigungsfeld für zirkuläre Wertschöpfungsprozesse. Dabei geht es vor allem um den Ersatz und die Wiederverwertung des alten Strassenbelags. Aus altem Asphalt kann neben den Gesteinskörnungen auch das Bitumen als Bindemittel rezykliert werden. Voraussetzung ist, dass der eingesetzte Asphalt frei von gesundheitsschädlichen Substanzen (vor allem Teer) und von Fremdkörpern ist. Bei allen Produkten und Verfahren müssen mit Planungsbeginn die Voraussetzungen für die Zirkularität gedacht und geschaffen werden. Das Design ist für zirkuläre Prozesse entscheidend, und so hat auch im Strassenbau die Planerin oder der Planer die grössten Gestaltungsmöglichkeiten. Dazu existieren jedoch noch wenige Denkansätze und Erfahrungen. Planer der öffentlichen Verwaltung sind zudem vor die Herausforderung gestellt, den «Trade-Off» zwischen der Anwendung des sogenannten «Flüsterasphalts» (möglichst geringe Lärmemissionen im Strassenverkehr gemäss #3 und #9 der Sustainable Development Goals SDGs) und dem rezyklierten Asphalt (ökologische Ziele der SDGs) zu managen – die Kombination beider Asphalteigenschaften ist technisch noch nicht möglich. Die ausführenden Bauunternehmen könnten aufgrund ihres Anwendungswissens in einer Zusammenarbeit mit den öffentlichen Auftraggebern viel zur optimalen Lösung beisteuern, sind jedoch aufgrund der besonderen Vergabevorschriften im Infrastrukturbau von der eigentlichen Planung derzeit aber noch ausgeschlossen.

Zirkuläre High-Tech Produkte in der Medtech-Branche

Die Medtech-Branche weist im Vergleich mit anderen Branchen in Sachen Kreislaufwirtschaft Nachholbedarf auf. Dies liegt vor allem an den sehr hohen Qualitätsstandards in der Medizinaltechnik. Eine Veränderung der Herstellungsprozesse in Richtung Kreislaufwirtschaft ist deshalb ein grosse Herausforderung. Ypsomed will Produktdesigns vorantreiben, die auf dem Prinzip der Kreislaufwirtschaft basieren und die Auswirkungen der Selbstmedikation von flüssigen Medikamenten durch Pen-Systeme auf die Umwelt auf ein Minimum reduzieren. Die von Ypsomed hergestellten Selbstinjektionssysteme, sogenannte Autoinjektoren, werden mit vorgefüllten Einwegspritzen von Pharma- und Biotechunternehmen weltweit verbaut. Das macht sie zu einem Teil der globalen Herausforderung im Umgang mit Plastikabfällen. Allerdings sind die Herausforderungen enorm, denn es geht ja nicht nur um das Injektionssystem, also das Gehäuse rund um die vorgefüllte Spritze, sondern auch um das einwandfreie Zusammenführen von Autoinjektor und Spritze beim Endfabrikanten sowie um das fehlerfreie Anwenden des Autoinjektors durch Patienten zuhause. Die Anforderungen an Stabilität, Qualität, Sicherheit und Benutzungsfreundlichkeit sind extrem hoch. Die Funktionalitäten und Materialeigenschaften der einzelnen Komponenten müssen perfekt aufeinander abgestimmt sein. Zum Beispiel darf die Spritzennadel auch nach der Selbstinjektion keinerlei Verletzungsrisiko für Patienten darstellen. Ypsomed will aufgrund der komplexen Problemstellungen und internationalen Wertschöpfungskette das Thema der Kreislaufwirtschaft deshalb auch in einem internationalen Verbund von Unternehmen angehen – nationale Alleingänge eines einzelnen Unternehmens sind mithin nicht zielführend

Kunststoff und Zirkularität – kein Widerspruch, sondern wettbewerbliche Notwendigkeit

Dass das Modell der linearen Wirtschaft nicht mehr funktioniert, ist auch in der Schweizer Kunststoffindustrie angekommen. Dabei kann die Verwendung von Kunststoff aus Gründen der Nachhaltigkeit in vielen Anwendungsbereichen wie etwa bei Lebensmittelverpackungen durchaus sinnvoll sein: Zur Vermeidung von Food Waste etwa macht es einen grossen Unterschied, ob man Frischprodukte unverpackt drei oder verpackt 20 Tage aufbewahren kann. Der Anteil der Verpackung am CO2-Fussabdruck des verpackten Produktes beträgt in der Schweiz nur wenige Prozente. Dennoch ist klar, dass Kunststoffe eine deutlich bessere «End-of-Life» Option anbieten müssen. In den Augen des Berner Unternehmens Semadeni Plastics Group ist es wichtig, dass sich bei allen Werkstoffen die Internalisierung externer Kosten durchsetzt, womit sich die Wettbewerbsposition von Unternehmen verbessere, die zirkuläre Wertschöpfung betreiben. Dann lässt sich die Kreislaufwirtschaft auch in einer technologisch anspruchsvollen Industrie wie der Kunststoffindustrie vorteilhaft umsetzen. Notwendig sind allerdings dauerhafte Investitionen und die Verankerung der Philosophie im gesamten Unternehmen, angefangen beim Verwaltungsrat und im Management. Forschungsbasierte Innovationen sind zentral. Die Entwicklung in Richtung nachhaltiges Wirtschaften ist unumkehrbar und die gewaltigen Anforderungen an Unternehmen sind nur mit forschungsbasierten Innovationen zu meistern. Da sich auch die multinationalen «Corporates» in einer Nachhaltigkeits-Transformation befinden, bekommen deren Zulieferer diese Auswirkungen direkt zu spüren: Wer diesen Weg nicht mitgehen kann, ist draussen aus dem Geschäft.

Fazit

Für eine wachsende Zahl von Schweizer Unternehmen ist die Verantwortung für nachhaltiges Handeln zu einem wichtigen Thema geworden. Gesamtwirtschaftlich ist die Entkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch ein wesentlicher Schritt in diese Richtung. Dafür sind grundlegende Veränderungen der Produktions- und Verbrauchssysteme erforderlich, wie sie in der «Kreislaufwirtschaft» vorgesehen sind. Menschen in Berner Unternehmen, unter ihnen viele KMU, zeigen ein bemerkenswertes Engagement für die Umsetzung der Kreislaufwirtschaft in der Schweiz. Doch bis zu einer breit abgestützten Umsetzung der Kreislaufwirtschaft ist es noch ein weiter Weg. Darin unterscheiden sich die Schweizer und im Besonderen die Berner Wirtschaft nicht von anderen europäischen Ländern. Der Wandel beginnt in den Köpfen — dies gilt auch und ganz besonders für die Entwicklung der Kreislaufwirtschaft. Die Argumente, warum dieser Wandel für die Zukunftsfähigkeit der globalen Wirtschaft und damit auch für die Schweiz notwendig ist, liegen auf dem Tisch; überzeugende Beispiele, wie dieser erfolgreich umgesetzt werden kann, auch. Im Mindset der meisten Geschäftsführungen scheinen — so lässt sich die Empirie deuten — die Chancen zirkulärer Geschäftsmodelle als innovative Investition in die eigene und gesellschaftliche Zukunft allerdings noch nicht verankert zu sein. Die Herausforderungen und Investitionsvolumina sind zudem beträchtlich. Deshalb müssen verstärkte und konzertierte Anstrengungen unternommen, das vorhandene Wissen besser genutzt und verbreitet, die finanziellen Ressourcen stärker für zirkuläre Wertschöpfungsprozesse eingesetzt werden, um mit Hilfe der Kreislaufwirtschaft eine nachhaltige, wettbewerbs- und zukunftsfähige Schweizer Wirtschaft zu schaffen.

Autor

Andreas Reuter
Reuter transferpilots.ch

Quelle

Reuter transferpilots.ch: Kreislaufwirtschaft. Innovationen der Berner Wirtschaft im europäischen Kontext. 2021. Report mit Unterstützung des Amtes für Wirtschaft des Kantons Bern AWI.www.transferpilots.ch/themen

Weiterführende Studien

Spescha, A.; Stucki, T.; Wörter, M. (2021): Statistische Informationen zur «Zirkularität» der Unternehmen in der Grossregion Espace-Mittelland. Eine Studie im Auftrag von Reuter transferpilots.ch. KOF Studien, Nr. 161, Januar 2021.
https://www.research-collection.ethz.ch/bitstream/handle/20.500.11850/487192/Studie_No_163_CE_Espace_4_incl_DB.pdf?sequence=1&isAllowed=y

Stucki, T.; Wörter, M. (2021): Statusbericht der Schweizer Kreislaufwirtschaft. Erste repräsentative Studie zur Umsetzung der Kreislaufwirtschaft auf Unternehmensebene.
https://www.bfh.ch/dam/jcr:c94f7cfb-250d-4c23-8cd1-45069da075d4/W_Brosch_Studie_Kreislaufwirtschaft_211126_W_def.pdf